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#6 Mehr Hirn für schlaue Füße

Sie haben in den vorherigen Blogbeiträgen unter der Überschrift „Mehr Hirn für …“ bereits eine Reihe Improvisationen unserer geistigen Maschinerie kennengelernt. Die funktionieren in der Regel sehr zuverlässig, aber nicht immer! Schließlich befindet sich in unserem Kopf keine Präzisionswerkstatt, sondern eher eine Bastelkammer. Da gehören gelegentliche (Selbst)Täuschungen durchaus dazu, zum Beispiel, dass der Kopf jederzeit das Steuerrad fest in der Hand hält. Aber das ist eben eine (Selbst)Täuschung. Was können wir tun, um dem entgegenzuwirken?

Es gibt zehn Dinge über unser Gehirn, die jeder wissen sollte. Denn wenn wir besser verstehen, wer wir sind und wie wir funktionieren, können wir unser Leben eher zu unserer Zufriedenheit gestalten. Seinen eigenen Geist verstehen, heißt sich selbst erkennen!

Jedem der zehn Eigenschaften widme ich ein eigenen Beitrag. Sie sind durchnummeriert und beginnen alle mit den Worten Mehr Hirn. Manchen beziehen sich aufeinander, aber nicht alle. Man muss sie nicht unbedingt in der von mir gewählten Reihenfolge lesen, denn wenn ein Beitrag auf einen anderen Bezug nimmt, ist ein entsprechender Link vorhanden. Ein vollständige Liste der zehn Überschriften findest du im Beitrag Mehr Hirn bitte!

Kopf gegen Füße oder David gegen Goliath  

Zunächst die gute Nachricht. Prinzipiell ist es möglich, den (Selbst)Täuschungen der geistigen Maschinerie nicht blind zu folgen, sondern bei Bedarf etwas entgegenzusetzen. Denn es gibt da noch eine weitere Instanz – die Vernunft. Sie gehört ebenfalls zu unserem mentalen Equipment. Die schlechte Nachricht: Sie funktioniert meist nur beim Blick auf andere. Das heißt, bei anderen wissen wir ziemlich schnell, was für sie gerade vernünftig wäre. Dieselbe Vernunft jedoch bei sich selbst walten zu lassen, gleicht einem Herkulesakt. Denn hier kämpft – bildlich gesprochen – der Kopf mit den Füßen. Und die sind meist stärker.

Bestens vernetzte Automatik  

Dass die „kopfmäßige“ top-down Kontrolle so schwerfällt, liegt an der Architektur der mentalen Maschinerie. Unsere evolutionsbiologisch erst kürzlich installierte Vernunft kämpft nämlich gegen ein bestens vernetztes, uraltes bottom-up Informationssystem. Letzteres ist spezialisiert auf das, was sich „direkt vor der Nase“ befindet: unmittelbare Gefahren und kurzfristige Ziele.

Während die bottom-up Infos weitestgehend automatisch, ohne viel Aufwand verarbeitet werden, muss die top-down Kontrolle ziemlich viel Energie aufbringen. Dafür blickt sie weit nach vorn, gegebenenfalls sogar über die eigenen Grenzen hinaus – es geht um langfristige Ziele und eine neutrale Perspektive.

Mühevolle Kopfarbeit  

Immanuel Kant hat dicke und ziemlich kopflastige Bücher über das Wesen und den Einsatz der Vernunft geschrieben. Den Akt, mit dem der Kopf sich der bottom-up Automatik entgegenstemmt, bezeichnete er als Aufklärung. Und die daraus gewonnenen Grundsätze waren für Kant die Visitenkarte des Charakters. Denn diese Grundsätze zeigen sich vor allem dann, wenn sie das eigene Handeln beschränken. Mit anderen Worten, wer von seiner Möglichkeit zum Einsatz der Vernunft keinen Gebrauch macht, findet auch keine Grundsätze. Und wer keine Grundsätze hat, besitzt auch keinen Charakter! So sah es jedenfalls der für seine herausfordernden Gedanken bekannte deutsche Philosoph.

Weil dieser kopfgeleitete oder von oben kommende, vernünftige Blick zusätzliche Anstrengung kostet, sparen wir ihn uns meist. Allerdings nur bei uns selbst. Bei anderen fordern wir ihn gerne als selbstverständlich ein. Mit anderen Worten, wir fordern von anderen eine Anstrengung, die wir uns selbst gern einsparen!  Das kann nicht funktionieren, denn die anderen gehen natürlich, genau wie wir, zusätzlicher Arbeit aus dem Weg.  Deshalb ist der Appell an die Vernunft ein Ignorieren der wirklichen Kräfteverhältnisse in unserem Kopf. Es ist, als würden wir das System auf den Kopf stellen.  

 

Geistiges Aikido  

In gewisser Weise ringt der Kopf fortwährend mit den Füßen. Das lässt sich kaum abstellen. Aber könnten wir dennoch etwas unternehmen, um weniger angestrengt und dennoch vernunftgeleitet durch das Leben zu navigieren?  

Vielleicht sollten wir uns am Aikido-Kämpfer orientieren. Seine Kunst besteht ja darin, den Stoß des Gegners nicht abzublocken, sondern umzuleiten und für sich selbst zu nutzen. Ein geistiges Aikido würde den „Stoß“ der Vernunft weniger von anderen fordern, dafür mehr von sich selbst. Die Vernunft des geistigen Aikido zeigt sich gerade darin, die bottom-up Kräfte des Geistes vorab zu berücksichtigen, sei es beim Anderen oder bei sich selbst. So würde beispielsweise ein geschickter geistiger Aikido-Kämpfer, bewusst die Vernunft anderer zu Rate ziehen, also den Blick von außen zu suchen.

Vom Kopf auf die Füße stellen

Hand aufs Herz: Glauben Sie wirklich, dass Facebook seine lediglich auf Aufmerksamkeit zielenden Algorithmen ändert, wenn wir an Mark Zuckerbergs Vernunft appellieren? Schließlich spiegelt das Geschäftsmodell lediglich die bottom-up Kräfte.

Die Aikido-Strategie würde genau hier ansetzen. Wenn wir dafür sorgen, dass Facebook mit Aktivitäten Geld verdienen kann, die der Gesellschaft nachweisbar dienen, z.B. bei gemeinschaftlichen Entscheidungsfindungen, wird Facebook sich ganz von selbst in diese Richtung bewegen. Das Unternehmen wird weiterhin seinen bottom-up Kräften folgen, diesmal aber auf eine, von außen betrachtet, „vernünftige“ Weise. Ein solches Vorgehen würde die Sache in jedem Fall vom Kopf auf die Füße stellen.

Jeder in seinem Bereich

Es ist keine Frage von Gut und Böse. Es geht auch nicht um einen endgültigen Sieg der Vernunft über dem animalischen Trieb. Beides hat seine Berechtigung – in jeweils unterschiedlichen Bedingungen. Dies zu berücksichtigen wäre wirkliche Weisheit. Ein Blick in den eigenen Geist könnte das meiner Ansicht nach unterstützen.

 

 

 

 

 

 

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