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#10 Mehr Hirn für Selbsterkenntnis

Unser Geist ist ein Improvisationskünstler. Erstaunlich, dass das so gut funktioniert. Noch erstaunlicher ist, dass wir davon nichts mitbekommen! Ganz im Gegenteil. Wir sind felsenfest überzeugt, über ein gestochen scharfes Bild der Wirklichkeit zu verfügen und unseren Geist nach Belieben, quasi auf Zuruf, lenken zu können. Das kann zum Problem werden, nämlich dann, wenn die Improvisationen daneben liegen. Und das passiert gelegentlich. Unser Gehirn ist eben eine Bastelkammer, keine Präzisionswerkstatt.

Ein Kopf voller Unordnung?

Ich habe in neun Blogbeiträgen von verschiedenen Eigenschaften unseres Gehirns berichtet, die Ihnen wahrscheinlich erst einmal abwegig vorkommen. Da war beispielsweise die Rede von einem verzerrten Bild auf jene Dinge, die doch so scheinbar glasklar vor uns liegen (#1); ich hatte berichtet vom Ursachen-Sehen, wo objektiv keine sind (#3) oder vom Kapitän der Vernunft, der in Wirklichkeit lediglich Sklave der Gefühlsmannschaft ist (#6). Und auch den Typen aus dieser Gefühlsmannschaft sei oft nicht zu trauen. Vielmehr, so hatte ich behauptet, erweisen sich Gefühle nur dann als verlässliche Ratgeber, wenn sie erprobt und geeicht wurden (#4). Zu allem Überfluss sei dann auch noch das Gedankenkarussell ganz natürlich, das ruhige Geradeausfließen des Gedankenstroms nur eine Illusion (#5).

Diese, und noch viele weitere Eigenschaften, zeichnen das Bild von einer fürchterlich unordentlichen Bastelkammer, in der das Improvisationsprinzip dominiert. Und diese Bastelkammer soll sich in unser aller Köpfen befinden, in Ihrem ebenso wie in meinem?!

Mut zur Selbsterforschung

Zugegeben, das ist wirklich schwer vorstellbar. Und noch schwerer zu akzeptieren. Ich weiß das. Dennoch lassen die Erkenntnisse aus der Forschung keinen anderen Schluss zu. Aber, so könnte man einwenden, es funktioniert doch eigentlich recht gut. Also, was soll‘s?

Das ist richtig. Dennoch könnte das Ding zwischen den Ohren vielleicht noch etwas besser funktionieren. Wer die Macken der eigenen Maschinerie kennt, kann sich entsprechend vorbereiten und dadurch die Präzision erhöhen, was sich wiederum durch Erfolg und Zufriedenheit auszahlt.

Wenn meine „Hirn“ Blogbeiträge dazu beitragen, dass Sie sich mit einer gesunden Portion Selbstskepsis für das Innere Ihres Kopfes interessieren, dann wäre mein Ziel schon erreicht. Und schließlich ist so ein Hinabsteigen in den eigenen Maschinenraum auch ein Weg der Selbsterkenntnis, der sowohl bei den alten Griechen als auch den Indern höchstes Ansehen genoss.  

 

Die letzte Hürde  

Wenn Sie angesichts dieser verwirrenden Zustände den Beschluss fassen, sich die Sachen im eigenen Geist näher anzuschauen, um die Präzision zu verbessern, dann steht Ihnen noch eine letzte Hürde im Weg. Die vielleicht größte Hürde. Unser Gehirn besitzt nämlich einen weiteren Bastelmechanismus, einen, der jedem Ansinnen nach Selbsterkenntnis geradezu diametral entgegensteht. Fachleute nennen dieses Puzzlestück unserer geistigen Maschinerie Konfabulieren.

Auf tragische Weise verdeutlichen uns das manche, von einem bestimmten Schlaganfall betroffene Patienten. Sie leugnen schlichtweg ihre aller Welt sichtbare Lähmung, meist des linken Armes oder Beines. Solche Neglect Patienten haben blitzschnell Erklärungen parat, beispielsweise: „Das ist gar nicht mein Arm!“ Oder: „Ich will meinen Arm einfach nicht bewegen!“  Aus dem Stehgreif erfinden sie eine passende Geschichte, in der sie als eine in sich stimmige Person auftreten. Fachleute nennen das Konfabulieren.

Gesunde Selbstskepsis

Konfabulieren selbst ist keine Krankheit, sondern etwas ganz Normales. Es findet in dem Gehirn von uns allen statt und folgt dem tief verwurzelten Streben nach sinnvollen Erklärungen. Erklärungen zu haben ist grundsätzlich wichtig, um die Welt berechenbarer zu machen. So wichtig, dass es die Evolution auch schon einmal in Kauf nimmt, wenn die Erklärung hanebüchend ist.

Was in manchen Fällen, wie dem Neglect, besonders krass zutage tritt, arbeitet bei den meisten von uns eher unbemerkt im Hintergrund. Aber es ist da. Wir erfinden die passenden Gründe im Nachhinein! Und wir verbringen viel mehr Zeit damit, nach Bestätigungen für unsere Erklärung zu suchen als nach etwas, das dagegen spricht. Ist doch klar, dass unser Geist mit dieser Strategie immer das „Richtige“ findet.

Die treibende Kraft hinter all dem ist das unbewusste Streben, sich selbst als stimmig zu erleben. Für alles, was der Geist bei seinem Besitzer beobachtet, „muss“ es eine sinnvolle Erklärung geben. Fällt etwas aus diesem Rahmen, wie beispielsweise ein unbeweglicher Arm, wird eben eine „sinnvolle“ Erklärung erfunden. Das stimmige Selbstbild ist gerettet!

4.     Selbsttest

Sie meinen nicht davon betroffen zu sein? Beobachten Sie doch einmal sehr genau, wie oft Sie sich rechtfertigen? Und im Vergleich dazu, wie oft Sie Fragen stellen, nachfragen – bei anderen, aber auch bei sich selbst?  Ob nun laut ausgesprochen oder still innerlich, da gibt es eine Stimme, die ständig am runden Bild von uns selbst arbeitet. Keine guten Voraussetzungen für Selbsterkenntnis. Das heißt nicht, dass sie unmöglich ist. Aber es ist einmal mehr Herkulesarbeit. Eine, die eine gesunde Portion Selbstskepsis erfordert.

 

Wer tiefer eintauchen möchte:

Michael Gazzaniga beschäftigte sich intensiv mit Patienten, deren Verbindung zwischen rechter und linker Gehirnhälfte aus medizinischen Gründen unterbrochen war (split-brain). Dabei begegneten ihm bemerkenswerte Fälle des Konfabulierens. 

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