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Vorausdenken ohne Kristallkugel

#2 Mehr Hirn für Vor-Urteile

Zu den Kniffen, die unser Gehirn entwickelt hat, gehört das Vorhersagen. Vorhergesagt wird nicht nur gelegentlich, sondern permanent. Wir können keinen Schritt machen, ohne dass unser Gehirn vorhersagt, wo der Fuß landen soll! Ein Tennisspieler wäre ohne diesen Kniff nicht in der Lage, den heranrasenden Ball des Gegners zu treffen. Bereits im Anflug schätzen die zuständigen Mechanismen unseres Geistes, wo der Ball aufschlagen wird. Nur so gelingt der Volley.

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Es gibt zehn Dinge über unser Gehirn, die jeder wissen sollte. Denn wenn wir besser verstehen, wer wir sind und wie wir funktionieren, können wir unser Leben eher zu unserer Zufriedenheit gestalten. Seinen eigenen Geist verstehen, heißt sich selbst erkennen!

Jedem der zehn Eigenschaften widme ich ein eigenen Beitrag. Sie sind durchnummeriert und beginnen alle mit den Worten Mehr Hirn. Manchen beziehen sich aufeinander, aber nicht alle. Man muss sie nicht unbedingt in der von mir gewählten Reihenfolge lesen, denn wenn ein Beitrag auf einen anderen Bezug nimmt, ist ein entsprechender Link vorhanden. Ein vollständige Liste der zehn Überschriften findest du im Beitrag Mehr Hirn bitte!

Ganz ohne Kristallkugel

Kann unser Gehirn in die Zukunft blicken? Wohl kaum. Denn sonst wären die richtigen Lottozahlen vom nächsten Wochenende jedem bekannt und damit natürlich auch keine Millionen mehr wert. Aber in gewisser Weise schafft es unser Geist durchaus, voraus zu denken. Wir alle tun es mehr oder weniger ständig, und es funktioniert gar nicht so schlecht. Aber wie schafft unser Gehirn das ganz ohne Kristallkugel?  

Zunächst einmal hat die Evolution schon ziemlich lange daran herumgebastelt. Die ersten Versuche stammen noch aus einer Zeit, lange bevor die ersten Zweibeiner den Planeten bevölkerten. Wahrscheinlich begann es mit Lebewesen, die die ersten Telerezeptoren besaßen. Darunter versteht man Organe, die nicht erst reagieren, wenn ein direkter Kontakt bzw. eine Berührung des Körpers erfolgt. Stattdessen registrieren Telerezeptoren Signale, die von etwas stammen, das sich in einer gewissen Distanz zum Lebewesen befindet, also Augen oder Ohren. Ein Hindernis zu sehen, bevor man davor stößt, erlaubt es rechtzeitig die Richtung zu verändern und damit die Kollision zu vermeiden. Und das konnten bereits die Dinosaurier.

Aber nicht alles, was wie ein Hindernis aussieht, ist wirklich eines. Durch eine Nebelwand kann man hindurchkriechen, durch einen Stein wohl kaum. Also stellt sich die Frage, woher das Gehirn weiß, wie es sein wird, wenn sein Körper in Kontakt mit dem Ding da vorne kommen wird? Ganz einfach, indem das Gehirn davon ausgeht, dass alles so sein wird wie beim letzten Mal. Doch was, wenn es gar kein letztes Mal gibt, wenn der ausstehende Handgriff oder die Handlung neu sind? Kein Problem. Dann greift unser Gehirn einfach auf ähnliche Erfahrungen zurück. Zu Beginn des Lebens funktioniert das natürlich weniger gut. Aber über die Jahre und Jahrzehnte wächst der Erfahrungsschatz und damit die Vorhersagemöglichkeit.

 

Der Trick mit der Kopie

Ganz wichtig: Vorhersagen erlauben unserem Gehirn Kontrolle und Anpassung. Also sitzt da irgendwo ein alles überblickender Kontrolleur, ein weiser Herrscher über den Geist? Weit gefehlt! Alles, was es braucht, ist eine Kopie. Vor jeder Bewegung macht unser Geist nicht nur einen Plan, sondern legt auch noch eine Kopie davon an. Während der Plan vom Bewegungsapparat abgearbeitet wird (unsere Hand greift nach dem Ball), dient die Kopie der Kontrolle: bewegt sich die Hand noch in Richtung Ball? Sobald die Antwort nein lautet, erfolgt eine Anpassung.

Nicht nur die Bewegungssteuerung, sondern auch unsere Wahrnehmung greift auf „Pläne“ zurück, wie eine Sache zu „handhaben“ ist, bzw. macht Voraussagen, wie es sein wird. Deutlich wird das vor allem dann, wenn diese Strategie fehlschlägt und Kuriositäten wie den McGurk-Effekt erzeugt. Weil das Gehirn aus der Beobachtung der Lippenbewegung ga-ga erwartet, „hört“ unser Gehirn da-da. Das ist eine Mischung aus dem, was der Sprecher tatsächlich sagt (ba-ba) und dem Vorhergesagten (ga-ga).

Von einfachen Bewegungen bis hin zu komplexen geistigen Urteilen und Emotionen – immer sind Vorhersagen im Spiel. Unser Geist stellt permanent neue Vermutungen an und beobachtet, ob sie sich bestätigen. Nur wenn das nicht der Fall ist, wird er weiter tätig. Denn dann sind Handlungsanpassungen oder neue Vermutungen gefragt.

 

Ganz ohne Vorurteile?

Ob man es als Vorhersagen, Vermutungen oder Hypothesen bezeichnet, die unser Geist jedem Schritt und jeder Handlung vorausschickt – wir erleben es als Erwartung. Wer also behauptet, ganz ohne Erwartungen und ohne Vorurteile unterwegs zu sein, der sagt damit eigentlich nur, dass er (noch) nicht weiß, wie sein Geist funktioniert! Dasselbe gilt natürlich ebenso für die Forderung an andere, frei von Vorurteilen zu sein.

Wer daraus den Schluss zieht, es bliebe uns nichts anderes übrig, als vor unseren Vorurteilen zu kapitulieren, der hat das Entscheidende übersehen. Denn (erst) wenn man weiß, dass der eigene Geist ständig mit Vor-Urteilen daherkommt, kann man beginnen, diese zu überprüfen, bevor man die geistige Go-Taste drückt.

 

Wer tiefer eintauchen möchte:

 

 

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