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Ein richtiger Yogi hat keine Angst vorm Verrücktsein

Bereits im nächsten Jahr machte ich mich wieder auf den Weg in den Himalaya, zu den Quellen des Yoga. Diesmal reiste ich aber ganz gezielt zu jenem Yogi, an dessen Tür ich vor einem Jahr nur zufällig geklopft hatte. Was ich freilich noch nicht wusste, dass dieser Yogi bereit war, jenseits aller Konventionen zu handeln. In jedem Fall aus dem im letzten Jahr eher versehentlich geäußerten Vorhaben, bei ihm intensive spirituelle Übungen (Sadhana Intensive) praktizieren zu wollen, war nun das erklärte Ziel geworden. Inzwischen hatten wir eine ganze Reihe von Briefen ausgetauscht – damals die einzige Möglichkeit des Kontakts. Sechs Wochen wollte ich diesmal bei ihm verbringen, um Yoga zu praktizieren, von ihm zu lernen und seinen persönlichen Erfahrungen zu lauschen.

 

Freiheit jenseits aller Konventionen

Das Leben dieses Yogis war keinesfalls so eintönig und zurückgezogen, wie ich es erwartet hat. Swami Premananda entpuppte sich als ein gefragter Mann, den die Leute aus der Gegend bei allen möglichen Gelegenheiten um Rat und Hilfe fragten. Vor allem aber gab es ständig ein paar Kinder, die in seinem Ashram herumwuselten. So war es gar nicht einfach, ihn zum Erzählen zu bringen. Doch wenn es sich ergab, konnte er stundenlang berichten. Dann nahm er mich gedanklich mit zu großen Yogis Indiens. Lebhaft und hingebungsvoll machte er mich mit immer neuen spirituellen Lichtgestalten vertraut. Jeder der Yogis, von denen Premananda berichtete, stand für eine eigene Art der bindungslosen Suche nach Selbstverwirklichung und Freiheit.

Große Yogis und verrückte Heilige

Ein besonderes Interesse schien Premananda für verrückte Heilige zu hegen. Menschen, die den Weg ihrer inneren Vervollkommnung so leidenschaftlich und hingebungsvoll beschreiten, dass sie buchstäblich alle gesellschaftlichen Konventionen vergessen oder sich zumindest nicht an sie gebunden fühlen. Ihr Verhalten erscheint nach außen hin oft als bizarr oder gar abstoßend, obwohl ihre Weisheit, ihr Grad an Selbstverwirklichung außerordentlich ist. Das gibt es in allen Religionen, aber wahrscheinlich nirgends so zahlreich wie in Indien.

Ein Beispiel hierfür war Dattatreya, der vor mehr als zweitausend Jahren als „Luftbekleideter“ (Avadhūta) – also einfach nackt – durch die Lande gezogen sein soll. Auf seinen Wanderungen lernte ervon über 20 verschiedenen „Gurus“, beispielsweise einer Hausfrau, deren typische Armreife am Handgelenk in dem Moment zu klappern aufhörten, als sie alle bis auf einen abgestreift hatte. In jenem Moment erkannte Dattatreya, so schilderte es mir Premananda mit einem Blitzen in den Augen, dass dann, wenn nur noch das Eine (Brahman) übrig ist, alles zur Ruhe oder finalen Bestimmung findet. Als ein Beispiel für einen, aus unserer Zeit stammenden heiligen Verrückten berichtete Premananda von Neem Karoli Baba. Auch der soll sich um keinerlei Konventionen geschert haben. Er kam und ging, wann immer es ihm spontan in den Sinn kam, was so manchen wohlwollenden Gastgeber vor den Kopf stieß. Aber so sind sie eben, betonte Premananda immer wieder, frei von allen Bindungen. Was so manchem als verrückt erscheint, ergänzte er mit verschmitztem Lächeln.

Wenn Gott zu Besuch kommt

Dass er selbst ganz ähnlich tickt, wurde mir erstmals klar als er mir folgende Episode berichtete. Einmal habe jemand an seine Tür geklopft, ohne dass er darauf reagierte. Er sei, so berichtete er mir, vollkommen in sich selbst versunken gewesen. Später dann kamen die Leute aus dem Ort zu ihm, um ihm vorzuhalten. „Swamiji, heute wollte dich der große Heilige XY besuchen. Doch du hast ihn, den alle als einen Gott verehren, nicht hereingelassen. Wie konntest du nur!“ Premananda entgegnete ihnen: „Ich war bei Gott als Gott zu mir kam. Wo ist das Problem?!“ Bei diesen Worten vollführten seine Hände eine Geste der Hilflosigkeit.

Seine offene, spontan unschuldige Ausdrucksweise signalisierte, dass mir dieser einfache Swami, wie er sich selbst immer wieder bezeichnete, keinesfalls eigene Größe vorspielen wollte, ebenso wenig wie den Dorfbewohnern gegenüber. Stattdessen schien er dem Unverständnis der einfachen Leute mit ehrlichem Mitleid zu begegnen. Denn gemäß dem indischen Denken wohnt Gott, oder ein göttlicher Kern (Atman), in jedem Menschen. Wer dies nicht nur intellektuell erkennt, sondern voll und ganz ins Bewusstsein integriert, findet zu sich selbst oder eben zu Gott. Es steht also jedem offen. Wie schwer es jedoch ist, dies tatsächlich zu realisieren und im eigenen Bewusstsein zu verankern, zeigt sich an der Reaktion der Dorfbewohner, bei denen man ja davon ausgehen konnte, dass sie mit indischen Lehren vertraut sein sollten. Um wieviel größer muss dann das Unverständnis westlicher Menschen sein! In ihren monotheistisch geprägten Ohren klingen Aussagen, wie die von Premananda, schlicht als Blasphemie oder Größenwahn.

 

Ein Yogi ohne Berührungsängste

So offen, wie Premananda seine Erfahrungen teilte, so offen zeigte er sich auch gegenüber meinem, für indische Verhältnisse ungewohnten Drang zu Körperkontakt. Nachdem ich ihn schon einige Male besucht hatte, begann ich, Premananda zur Begrüßung herzlich zu umarmen, so wie einen guten alten Freund. Dass ich dabei offensichtlich gewisse Konventionen missachtete, merkte ich erst an den irritierten oder gar entsetzten Blicken der anderen Anwesenden.

Einem angesehenen Yogi wie ihm, nähert man sich respektvoll. Das heißt, man verneigt sich, am besten so tief, dass man mit der Stirn die Füße des allseits Verehrten berührt. Körperkontakt, besonders in Form von Umarmungen, galt und gilt in Indien als Tabubruch, im Alltag und noch viel mehr bei einem richtigen Yogi. Ihn selbst scherte meine Respektlosigkeit offenbar wenig, denn er erwiderte den unerwarteten Körperkontakt jedes Mal wohlwollend. So ist es geblieben, bis heute. Einzig die Umarmungen werden länger. Freilich vergesse ich inzwischen nicht, zumindest nach der Umarmung, auch noch meine Stirn auf seine Fußrücken zu legen. ( …. die Fortsetzung findet ihr hier)

 

 

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